Hier sind wir also. In einer Welt, in der jeden Sommer die Wälder brennen und die Flüsse austrocknen. In einer Welt, in der eine Vielzahl der natürlichen Ökosysteme ernsthaft krank ist. In einer Welt, in der wenige einzelne reiche Menschen genauso viel besitzen wie die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung. In einer Welt, in der das reichste Prozent der Menschen doppelt so viel CO2 verursacht wie die ärmsten 50 Prozent. In einer Welt, in der kriegerische Auseinandersetzungen wieder auf dem Vormarsch sind. In einer Welt, die wir zu großen Teilen selbst erschaffen haben.
Es ist klar, dass „die Wirtschaft“ in erheblichem Maße zu diesen krisenhaften Zuständen beigetragen hat und weiterhin jeden Tag dazu beiträgt. Das ungebremste und exponentielle ökonomische Wachstum und die dafür notwendige Endlos-Produktivität setzen den bereits eingeschlagenen Pfad immer schneller fort. Angesichts der Erkenntnis, dass uns die Zeit zum Gegensteuern davon läuft und wir möglicherweise bereits eine Reihe von Kipppunkten hinter uns gelassen haben, wird der Ruf nach einem systemischen Wandel lauter – vonseiten der Nichtregierungsorganisationen, aber auch von staatlicher und überstaatlicher Seite.
Das Problem ist schon lange nicht mehr auf der Wissensebene angesiedelt. Wir kennen die Zahlen. Wir haben ausreichend empirische Belege. Wir wissen, wie es um uns als globale Gesellschaft bestellt ist. Es gibt auch klare Szenarien, wie wir in eine neue Welt aufbrechen könnten, wie ein neues gesellschaftliches und wirtschaftliches Paradigma aussehen könnte. Gerade erst im September 2022 hat der Club of Rome mit „Earth for All“ eine Studie vorgelegt, die fünf große volkswirtschaftliche Turning Points aufzeigt und die wichtigsten Maßnahmen für jeden dieser Turning Points detailliert beschreibt. All diese Maßnahmen zusammen würden uns zwischen zwei und vier Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts kosten. Eine gewaltige Summe, ohne Frage. Aber absolut machbar.
Wir haben genug Wissen. Wir hätten auch genug Geld. Trotzdem kommen wir nicht ins Handeln - Otto Scharmer nennt das „Knowing-Doing-Gap“. Warum ist das so? Natürlich gibt es sehr viele Menschen auf der Welt, die aufgrund von Eigeninteressen oder auch einfach schierer Überforderung die Augen vor dem Zustand der Welt verschließen, ihn als Fake News bezeichnen oder weiterhin allein an heilbringende technologische Lösungen glauben. Eine andere einleuchtende Antwort, warum wir nicht ins Tun kommen, liefert die Systemtheorie (um einen ganz kurzen theoretischen Exkurs kommen wir leider nicht herum).
Die Systemtheorie unterscheidet organische, psychische und soziale Systeme und ihre Funktionsweisen. Unternehmen oder auch das Wirtschaftssystem zählen hier zu den sozialen Systemen, wir als Individuen zu den organischen (Körper) und psychischen Systemen (Bewusstsein). Egal welcher Art: Systeme streben immer danach, sich selbst zu erhalten und zu reproduzieren. Diesen Job macht vor allem unser Wirtschaftssystem verdammt gut. So gut sogar, dass die Probleme am Rand dieses Systems immer größer werden.
Aus systemtheoretischer Perspektive wird die eigene Erhaltung eines Systems durch die Umwelten begrenzt, in die das System eingebettet ist. Co-evolutionäre Einbettung nennt sich das dann. Mit anderen Worten: wenn sich das System immer stärker selbst reproduziert, damit aber seinen Umwelten schadet, die es zum Leben braucht, dann ist es irgendwann auch mit der eigenen Reproduktion vorbei. In organischen Systemen (Pflanzen, Zellen etc.) passieren notwendige Korrekturen meist dadurch, dass die umgebenden Umweltsysteme irgendwann der unkontrollierten Ausbreitung eines einzelnen Systems Einhalt gebieten. In sozialen Systemen kann man den Korrekturmodus am treffendsten mit „freiwilliger Selbstbeschränkung“ betiteln. Damit sind nicht nur freiwillige Handlungen einzelner Akteur*innen gemeint, sondern auch Rahmenbedingungen und Gesetze, die sich das System selbst gibt, um sein Überleben zu koordinieren und zu sichern.
Genau in diesem Spannungsfeld entstehen nun die Krisen, die das Wirtschaftssystem Tag für Tag befördert: Die Wirtschaft funktioniert ganz hervorragend, solange wir sie innerhalb ihrer eigenen Systemlogiken betrachten (Wachstum! Vollbeschäftigung! Geldvermehrung!). Sie scheitert jedoch auf dramatische Art und Weise daran, sich der wechselseitigen Abhängigkeiten zu anderen relevanten Umwelten bewusst zu werden und sich co-evolutionär zu verhalten – sich also darum zu bemühen, dass alle Systeme gut miteinander gedeihen können.
Wir brauchen neue Spielregeln für einzelne Unternehmen und für das gesamte Wirtschaftssystem, die die freiwillige Selbstbeschränkung fördern – zugunsten der Umwelten, in die wir als Menschen, als Organisationen und als Wirtschaft eingebettet sind. Wir können dabei aber leider nicht mal kurz auf die Pausetaste drücken, uns einen neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwurf ausdenken und dann im neuen Regelwerk weiterspielen. Sondern wir sind aufgefordert, diesen dringend notwendigen Umbau während des laufenden Betriebs vorzunehmen.
Um diesen wichtigen und riesigen Schritt bewältigen zu können (der Club of Rome nennt das entsprechende Szenario sehr passend „Giant Leap“), brauchen wir vereinte Kräfte im Sinne einer Collective Action: Es braucht die Arbeit am System, also die Weiterentwicklung und Umgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Anreizstrukturen, der politischen Lenkungswirkung. Hier sind die Menschen gefragt, die in politischen Rollen die regulatorischen Rahmenbedingungen verändern können. Bei all den vorhandenen Partikularinteressen – erst recht auf globaler Ebene – kann das eine zähe Veranstaltung sein, wie uns die COP27 leider wieder vor Augen geführt hat.
Gleichzeitig braucht es die Veränderung im System: Unternehmen, die beginnen, die gegenseitigen Abhängigkeiten, in die sie eingebettet sind, ernst zu nehmen und Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre lebenswichtigen Umgebungssysteme zu übernehmen.
Wir brauchen Unternehmen, die verstehen, dass eine „freiwillige Selbstbeschränkung“ notwendig ist, um den benachbarten Systemen – und damit im Gegenzug auch wieder uns selbst – das Überleben zu ermöglichen. „Interdependenz-Kompetenz“ könnte man das etwas sperrig nennen.
Wir sind übrigens mittlerweile bereits in der bemerkenswerten Situation, dass einige Akteur*innen aus dem Wirtschaftssystem die Politik auffordern, die Rahmenbedingungen im hier beschriebenen Sinne konsequenter und schneller zu verändern. Anlässlich der COP27 verfassten mehr als 100 CEOs und Senior Executives einen offenen Brief an die politische Führung, in dem sie ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekräftigen, um gemeinsam eine schnellere Transition zu „net zero“ zu erreichen. Das ist gut nachvollziehbar: solange alle anderen noch die Freiheiten der alten Spielregeln nutzen, will ich nicht der einzige sein, der sich an neuen Spielregeln orientiert. Sobald für alle die gleichen neuen Spielregeln gelten, gibt mir das als Unternehmensverantwortliche*r wieder Handlungs- und Investitionssicherheit für die Zukunft.
Eine der wichtigsten Spielregeln, die sich verändern muss, ist unser Verständnis des „Unternehmenserfolgs“. Solange wir innerhalb der Begrenzung des Wirtschaftssystems bleiben und die Abhängigkeiten zu anderen Systemen ausblenden, sind die einzig relevanten Erfolgskennzahlen ökonomischer Natur. Ein erfolgreiches Unternehmen ist eines, das schwarze Zahlen schreibt, sein Reinvermögen steigert und seinen Eigentümern bzw. Shareholdern Dividenden ermöglicht. Punkt.
In einem neuen wirtschaftlichen Paradigma wird dieses Erfolgsverständnis ergänzt um die „Interdependenz-Kompetenz“, also die Kompetenz der bewussten co-evolutionären Einbettung. Dabei geht es explizit nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Natürlich müssen Unternehmen in der Privatwirtschaft auch weiterhin wirtschaftlich gesund sein, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Dazu kommt aber ein kontextualistisches Denken, ein Verständnis von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, das mindestens genauso wichtig ist für das eigene Überleben und das auf lange Sicht die Resilienz nicht nur der einzelnen Organisation, sondern des gesamten Wirtschaftssystems steigern wird. Vom Denken in linearen Zusammenhängen hin zum Denken in Systemen. Angewandtes Systems Thinking sozusagen.
Wenn wir ganz genau hinschauen, deutet sich dieses neue Paradigma an vielen Stellen bereits an - natürlich ohne, dass es schon im Mainstream verankert wäre oder gar als Selbstverständlichkeit bezeichnet werden könnte. Viele Akteur*innen des Wirtschaftssystems begleitet in steigendem Ausmaß ein merkwürdiges Bauchgefühl, nur auf ökonomische Kennzahlen zu schauen und gleichzeitig die täglichen Krisenmeldungen zur Kenntnis zu nehmen. Die steigende Bedeutung von Nachhaltigkeitsindikatoren, die teilweise bereits verpflichtende Berücksichtigung von ökologischen, sozialen und Governance-Kriterien in den Reporting-Standards sind erste zarte Hinweise auf dieses neue Paradigma. Wir sind längst noch nicht da, wo es sich sozial und ökologisch wieder stabil anfühlt und es geht leider auch an vielen Stellen nicht schnell genug. Es gibt aber beobachtbare Artefakte des „Neuen“, die einen ersten Geschmack eines möglichen Zukunftsentwurfs vermitteln.
Noch mal kurz zur Wiederholung: wir brauchen jetzt schnell und konsequent Arbeit am System und Arbeit im System. Wir können nicht aufeinander warten. Es liegt nahe, bei diesen umfangreichen notwendigen Veränderungen erst mal auf die Politik zu schielen und nach neuen Rahmenbedingungen zu rufen. Die braucht es natürlich auch. Gleichzeitig ist aber jede einzelne Organisation aufgerufen, sich aus sich selbst heraus auf den Weg in das neue Paradigma zu machen und damit zu einer Systemveränderung von innen heraus beizutragen.
Wir als TheDive sehen unseren Beitrag vor allem im System, und das in zweierlei Hinsicht: einerseits in der Art und Weise, wie wir unsere eigene Organisation als Prototyp einer Life-centric Organization gestalten. Und andererseits, indem wir andere Organisationen darin begleiten, sich auf eine für uns alle hilfreiche Art und Weise weiterzuentwickeln.
In den vergangenen Jahren hat sich unser Framework für eine Life-centric Organization weiterentwickelt und komplettiert. Es bildet den Rahmen, in dem wir selbst unterwegs sind und mit dem wir gerne alle unterstützen, die sich mit uns auf den Weg machen wollen. In einem recht umfassenden Transformationsprogramm haben wir 2022 die Weichen dafür gestellt, noch konsequenter die Paradigmen einer Life-centric Organization am eigenen Beispiel ins Leben zu bringen. Wie genau, könnt ihr in den unten verlinkten Texten nachlesen.
Es geht uns dabei um eine kurzfristige Irritation des Systems, die langfristig aber zum Erhalt der Systeme (sowohl des Wirtschaftssystems, als auch der Gesellschaft und der natürlichen Ökosysteme) beiträgt. Warum? Rein systemerhaltende Eingriffe werden nicht reichen, um einen Unterschied zu machen.
Was wir brauchen, sind regenerative Organisationen, die sich ihrer Eingebettetheit in soziale und ökologische Systeme bewusst sind und positive Lösungen schaffen. Zur Bewahrung noch intakter und zur Regeneration bereits angegriffener Ökosysteme. Um solche Organisationen zu gestalten, sehen wir fünf plus eine Ebene, die wir in den Blick nehmen sollten. Warum „5+1“? Weil fünf dieser Ebenen innerhalb der Organisation liegen, die sechste aber über die Systemgrenze der Organisation hinaus geht.
1 Purpose: Von Profit only zu Impact first
2 Ownership und Governance Model: Von kurzfristiger Profitmaximierung zu langfristiger Verantwortung
3 Finance: Von Quarter is king zu Finance serves purpose
4 Organisationales Betriebssystem: Von der Personenhierarchie zum lebendigen Organismus
5 Leistungserbringung: Von linearer Ausbeutung zur wechselseitigen Wertschöpfung
+1 Ökosystem: Vom Kampf um begrenzte Ressourcen zur Co-Evolution
In einer solchen Organisation wirken je zwei Prinzipien im Gegenstrom von innen nach außen bzw. außen nach innen: das Sinnprinzip wird ausbalanciert durch das Wertschöpfungsprinzip, das Selbstbestimmungsprinzip findet seine Balance im Interdependenzprinzip. Wie diese Prinzipien zusammenspielen, beleuchten wir unten etwas genauer. Im Folgenden streifen wir nur die wichtigsten Aspekte der einzelnen regenerativen Organisations-Dimensionen:
Wir sind davon überzeugt, dass ein regenerativer Wandel des Wirtschaftssystems von innen heraus - also Organisation für Organisation - nur gelingen kann, wenn Unternehmen sich nicht davor scheuen, auf alle genannten Ebenen einen kritischen Blick zu werfen.
Es muss sicherlich nicht alles gleichzeitig passieren, sondern darf der Energie folgen. Letztlich wird eine regenerative Wirtschaft aber nur dann möglich, wenn alle Prinzipien der Life-centric Organization – Sinnprinzip und Wertschöpfungsprinzip, Selbstbestimmungsprinzip und Interdependenzprinzip – in einer guten Balance stehen.
Wir hatten in der Gründung von TheDive einen starken Impuls, der ganz gut beschrieben werden kann mit „Wir fangen dann mal an“. Wenn man das Gefühl hat, dass das Wirtschaftssystem sich mal weiterentwickeln oder transformieren könnte, ist es leicht, auf andere oder auf „das System“ zu zeigen. Oder man dreht den Finger liebevoll auf sich selbst. Wir sind weit davon entfernt, „das Wirtschaftssystem“ zu revolutionieren – jedenfalls nicht alleine. Aber wir haben in den letzten sieben Jahren ein paar Erfahrungen gemacht, von denen wir glauben, dass sie auch auf andere Organisationen übertragbar sind – und dass sie insgesamt zu einer hilfreichen Entwicklung für uns alle beitragen können. Viel Spaß beim Durchklicken der anderen Texte - und lasst uns gerne wissen, was ihr davon haltet!
PS: Unser Modell für die Life-centric Organization ist angelehnt an die Deep Organization Design Dimensionen des DEAL (Doughnut Economics Action Lab). Wir haben sie für unsere Arbeit aber leicht verändert und ergänzt.
Die Lead-Rolle war bisher diejenige Rolle, in der sich die meisten Führungsverantwortlichkeiten gesammelt haben. Letztes Jahr haben sie abgeschafft. Genauer gesagt haben wir ihre Führungsfunktionen auf drei Rollen aufgeteilt.
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