Es ist sicher nicht aus der Luft gegriffen, dass vielen Menschen bei finanziellen Aufgaben wie Buchhaltung oder ökonomischen Detailrechnungen nicht eben das Herz aufgeht. Wer kann, vermeidet sie in der Regel und verweist Anfragende freundlich auf die Kolleg*innen in der Finance-Abteilung. Dort sitzen schließlich diejenigen, die bewiesen haben, dass sie keine Berührungsängste mit komplexen Excel-Formeln und Prognosesystemen haben. Sie liefern die richtigen Zahlen, nach denen alle anderen malen. So tut jede*r, was er oder sie am besten kann. Ergibt doch Sinn, oder nicht?
Das Problem mit den Zahlen ist: Sie suggerieren uns Objektivität, sind aber nur konstruierte Wirklichkeit. In Organisationen nutzen wir sie oft, um zu planen, was sein darf und was nicht. Zum Beispiel bei der Erstellung von Budgets. Wir treffen (gut oder weniger gut) begründbare Annahmen über die Zukunft und orientieren unsere Entscheidungen dann über mehrere Monate hinweg an diesen Plänen. Das Resultat ist ein recht starres Gerüst, das auf die ständige Dynamik der Umwelt nicht vorbereitet ist. Man könnte sagen: Wir versuchen mithilfe von Vorhersagen und Berechnungen, die Zukunft zu konstruieren und biegen die Realität nicht selten zurecht, wenn wir merken, dass der Weg dorthin nicht passt.
Im allgegenwärtigen, komplexen und naturgemäß unberechenbaren Weltgeschehen inklusive multipler Krisen, werden sorgfältig ausgeklügelte Budgetphantasien schnell durchkreuzt. Mühsam erarbeitete Zukunftspläne werden obsolet, wenn plötzlich offenbar wird, dass die Organisation nicht von ihrer Umwelt isoliert besteht und vieles einfach ungeplant hereinbricht, sich aber ebenso ungeplant neue Chancen eröffnen.
Noch zehrender wird es für sinngetriebene Organisationen. Sie haben den Anspruch, ihre Entscheidungen nicht nur nach dem ökonomischen Überleben, sondern auch nach dem eigenen Purpose auszurichten. Und dieser richtet sich nach außen – darauf, einen Mehrwert im Sinne des Gemeinwohls zu erzielen. Doch was tun, wenn sich dieser Purpose durch die Brille unserer klassischen Rechenwerke nicht rechnet? Dann müsste sich eins von beidem ändern: der Purpose oder die Brille.
Um diesen Wandel zu bewerkstelligen, braucht es ein neues Verständnis von Organisationen und ihrem Platz in der Welt. Das Bild des Unternehmens als Maschine, die nach einer linearen Input-Output-Logik funktioniert, wird der Zukunft und ihren komplexen Anforderungen nicht mehr gerecht.
Wenn wir ernsthaft und langfristig regenerativ wirtschaften wollen, führt kein Weg daran vorbei, auch unseren Umgang mit Zahlen, Rechenwerken und Auswertungen kritisch zu hinterfragen. Die ganze Wirklichkeit der Ökonomie wird maßgeblich durch die Auswertungen der Finanzabteilung geschaffen. All diese Konstruktionen bilden die Brille, durch die im Weiteren ökonomisch beobachtet, bewertet und entschieden wird. Und genau in diesem Konstruktionsprozess tragen Organisationen und insbesondere ihre Finance-People eine erhebliche Verantwortung.
Dieser Text ist eine fast schon verboten kurze Vereinfachung von New Finance. Deshalb hat Diver und Finanzexperte Andreas Lerche ein Buch darüber geschrieben.
Uns war klar, dass wir mit den Methoden des etablierten Controllings bei TheDive nicht weiterkommen. Die Suche nach neuen Konzepten oder Ideen für Finance und Controlling in Purpose-orientieren, selbstorganisierten Organisationen gestaltet sich aber leider auch nicht besonders ergiebig. Unser Finanz-Guru Andreas hat deshalb die Sache selbst in die Hand genommen. In seinem Buch „New Finance“ zeigt er auf, wie internes Rechnungswesen und ökonomische Selbststeuerung in der Selbstorganisation funktionieren kann.
In den Grundzügen besteht der New Finance Ansatz aus fünf Prinzipien und sieben Kernmethoden. Er verfolgt das Ziel, Formate der Kommunikation, der Beobachtung und der Reflexion zu schaffen, um hilfreiche Entscheidungen zu treffen, die das Überleben der Organisation im Kontext der relevanten Umwelten sicherstellen.
Sprechen wir davon, unseren Blick auf Zahlen zu verändern, meinen wir damit nicht das Erfinden neuer Messmethoden, ausgefeilter KPIs (Key Performance Indicators) oder bunter Dashboards. Vielmehr geht es darum, mit einer gehörigen Portion gesundem Menschenverstand auf ökonomische Zusammenhänge zu blicken.
Tut man das, stellt man fest, dass es sehr oft um das Handhaben von Widersprüchen und zirkulären Zusammenhängen geht und wir es selten mit planbaren Zweck-Mittel-Beziehungen zu tun haben. Man wird auch feststellen, dass es ein äußerst wirkmächtiges soziales Konstrukt gibt, auf dem nahezu unser gesamtes ökonomisches Handeln fußt und über das spannenderweise sehr selten gesprochen wird: das Eigentum. (Mehr dazu hier)
Zum anderen bedeutet ein radikaler Perspektivwechsel aber auch, darüber nachzudenken, welche wirklichkeitsstiftende Wirkung unsere ökonomische Sprache hat, anhand welcher Grundlagen wir ökonomische Entscheidungen treffen und welche dieser „sozialen Techniken“ in der heutigen Welt noch hilfreich sind.
Einer der zentralen methodischen Bausteine des New-Finance-Ansatzes ist die Wertbildungsrechnung (WBR). Die WBR ist ein Rechenwerk des internen Rechnungswesens. Anders als die herkömmliche Deckungsbeitragsrechnung im klassischen Controlling, wird hier jedoch nicht von „oben nach unten“ gerechnet (à la die Kosten reduzieren den Gewinn), sondern es werden Leistungsströme abgebildet. Sinnvollerweise braucht es dann auch andere Bezeichnungen für solche Leistungsströme.
Während in klassischen Rechenwerken typischerweise die Kostenverfolgung und -reduktion im Vordergrund stehen, verzichtet die Wertbildungsrechnung komplett auf den Kostenbegriff.
Kostenstellen werden hier zu Leistungskreisen, statt Kosten sprechen wir von Preisen für Leistungen, Personalkosten heißen nun „Einkommen der Kolleginnen“. Anstelle von Gewinnen oder Verlusten beobachten wir Ent- oder Verschuldung. Allesamt begriffliche Unterscheidungen, die einen Unterschied machen! Frei nach Götz Werner, dem im Jahr 2022 verstorbenen Gründer der dm-Drogiermarkt Kette, lässt es sich auch so zusammenfassen: „Ich habe noch kein einziges Unternehmen gesehen, in dem die Mitarbeiter das Ergebnis real reduzieren. Nein, es ist immer anders: Die Mitarbeiter führen das Ergebnis des Unternehmens herbei! Das ist etwas völlig anderes!“
Eine weitere wesentliche New-Finance-Neuerung betrifft die Etablierung ökonomischer Rollen als Voraussetzung für dezentrale Entscheidungen. Bei TheDive haben wir dafür die Rolle der Kreisökonom*innen geschaffen, die eine Standardrolle in jedem unserer Kreise ist. Wir unterscheiden dabei „Businesskreise“ (direkt wertschöpfende Kreise) und „Vorleistungskreise“ (Kreise, die interne Leistungen erbringen). Die Kreisökonom*innen aller Kreise sind übergreifend in einer Gilde organisiert.
Und so sieht die Rolle im Detail aus:
Ermöglichen von ökonomischem Erfolg durch verantwortungsvolle Entscheidungen
circa einmal pro Monat.
Die Rolle sollte relativ stabil besetzt sein, da Wissen und Gefühl für Zahlen des Kreises und für die gesamte Organisation damit einhergeht.
Das Einführen der Kreisökonom*innen-Rolle hat eine Reihe fundamentaler Effekte. Einige können wir heute schon ganz klar beobachten:
Sie fördert die ökonomische Selbststeuerung in den Kreisen, denn ergänzt durch die kreisbezogenen Wertbildungsrechnungen haben die Kreise alles an der Hand, was sie brauchen, um verantwortliche ökonomische Entscheidungen zu treffen.
Sie erhöht den ökonomischen Sachverstand und das ökonomische Wissen in der gesamten Organisation, denn die Kreisökonom*innen sind dafür verantwortlich, alle Mitglieder ihres Kreises mit den Grundlagen des New-Finance-Ansatzes vertraut zu machen.
Es entsteht ein Miteinander, das Co-Intelligenz fördert, denn sowohl auf der Ebene der Kreise als auch auf der Ebene der Kreisökonom*innen findet ein regelmäßiger Abgleich von individuellen (ökonomischen) Wirklichkeiten statt.
Und, zu guter Letzt, ganz praktisch: Budgetierung ist passé! Es werden keine aufwendigen Budgets mehr gebastelt, die bereits nach wenigen Wochen nicht mehr zur Realität passen und die leider trotzdem in vielen Unternehmen mehr Steuerungswirkung entfalten als die eigentliche Wirklichkeit. Vielmehr werden ökonomische Entscheidungen dort getroffen, wo der meiste Sachverstand sitzt. Mit dem guten Gefühl, dass die gesamte Organisation alles hat, was sie braucht, um diese Entscheidungen in einer verantwortlichen Art und Weise zu treffen.
Ihr merkt schon: Wir können in diesem Artikel nur einige wesentliche Aspekte des New Finance Ansatzes anreißen. Alle, die es genauer wissen möchten, verweisen wir gerne nochmal auf das im April 2023 erschienene New Finance Buch.
Bei TheDive arbeiten wir nun seit über einem Jahr konsequent nach den New Finance Prinzipien und Methoden. Was wir schon heute aus unserer praktischen Erfahrung sagen können: Der New Finance Ansatz liefert ein neues und praktisch erprobtes Gesamtkonzept, das zu den ökonomischen Herausforderungen unserer Zeit passt und das jenseits der traditionellen, linearen Annahmen des etablierten Controllings neue Möglichkeiten der ökonomischen Selbststeuerung aufzeigt.
Auch wenn es mal anstrengend ist, solch fundamentale Arbeitsweisen zu verändern, es lohnt sich. Denn wenn wir wirklich regenerativ wirtschaften wollen, werden wir nicht umhinkommen, uns auch mit diesen Themen zu beschäftigen, die im „Deep Design“ jeder Organisation liegen.
Wir haben einen neuen Prozess entwickelt, der unsere Gehälter noch fairer, transparenter und selbstbestimmter machen soll – und uns als Organisation regenerativer.
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