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Was passiert, wenn New Work
auf ein Krankenhaus trifft?
Meine Station
Im Klinikum Aschaffenburg-Alzenau arbeitet die erste selbstorganisierte allgemeinchirurgische Klinikstation mit dem The Loop Approach® und stellt sich die Frage: Was wäre, wenn im Krankenhaus wieder der Mensch im Mittelpunkt stünde?
Wirksame Zusammenarbeit
Zeitgemäße Führung
Gesunde Arbeitswelt

Nur mal eben die Welt retten?

Seit Jahren korrodiert mit dem Gesundheitssystem ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft unter den Augen der Öffentlichkeit. Während Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber*innenverbände um Lösungen ringen, verlassen immer mehr Menschen aufgrund miserabler Arbeitsbedingungen ihren Job. Wer jetzt gerade jung ist, fängt zudem mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht erst dort an. Das Bizarre: Für viele wäre ein Job in der Pflege eigentlich ein Traumberuf. Denn wo sonst liegt potenziell so viel Selbstwirksamkeit wie in der Kraft zu heilen?

Doch um sich wirksam zu fühlen, benötigen Pflegekräfte ein System, das die Bedürfnisse aller Beteiligten, sei es Patient*innen oder Personal, in den Mittelpunkt stellt. Eine Prämisse, die in der derzeitigen Situation quasi unerfüllbar ist. Grund genug für das Team von Meine Station, die Ärmel hochzukrempeln und einfach mal loszulegen.

Ein Pilotprojekt mit Wurzeln in der Loop Academy

Meine Station ist ein Pilotprojekt am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau („KAB”) und ein Gewächs unserer Loop Academy.

Dort trafen sich im Frühjahr 2022 Hubertus Schmitz-Winnenthal, Chefarzt der Chirurgischen Klinik I am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau und Nadja Nardini, selbstständige Beraterin, bei ihrer Loop Approach Fellow Ausbildung und überlegten gemeinsam, was es braucht, um im deutschen Gesundheitssystem wirklich etwas zu bewegen. Heraus kam die erste chirurgische Klinikstation, die nach den Prinzipien der Selbstorganisation funktioniert. Unser Diver und Berater Felix Herter ist neben Nadja und Hubertus einer der Projekt-Architekten und Teil des Kern-Organisationsteams. TheDive unterstützt das Projekt mit Expertise und Mitteln aus dem Pro-Bono-Topf.

Was wäre, wenn im Krankenhaus
wieder der Mensch im Mittelpunkt stünde?

Mit Kickstart ins Rennen

Gemeinsam mit Nadja entwickelte Hubertus im Mai 2022 schnell ein Grobkonzept für den Aufbau einer chirurgischen Station mit dem Loop Approach, dem Transformationsframework von TheDive.

Einen Monat später wurde die erste Pressemitteilung veröffentlicht, um die Bewerbungsphase zu starten, in der Interessierte sich für eine Teilnahme am Projekt bewerben konnten. Die Resonanz war beachtlich. Mit 70 Bewerber*innen führte das Organisationsteam – mittlerweile um TheDive Trainer und Berater Felix bereichert – drei sogenannte Teamfindungsworkshops durch, die im August und September 2022 stattfanden. Hier bekamen die Bewerber*innen gemeinsam Einblicke in die Arbeitsweisen der Selbstorganisation und lernten sich kennen.

Wer dort feststellte, dass er oder sie wirklich auf einer selbstorganisierten Station arbeiten möchte, wurde in den darauffolgenden Teamzusammenführungs-Workshop eingeladen. Dort bildeten die Bewerber*innen im Oktober 2022 Projektgruppen wie „Dienstplan“, „Versorgungskette“ und „Abläufe“, definierten eine gemeinsame Vision und entwickelten erste Konzepte für die Zusammenarbeit. Anschließend begann mit den verbliebenen 25 Teilnehmer*innen die Ausbildungsphase für selbstorganisierte Zusammenarbeit mit den drei Modulen des Loop Approach.

Ein Krankenhaus trifft auf den Loop Approach

Der Loop Approach ist ein von TheDive entwickeltes Transformationsframework, das Teams und Organisationen auf der Reise in Richtung Selbstorganisation unterstützt. Anstelle eines „one size fits all“-Ansatzes orientiert sich der Loop Approach an den Bedürfnissen der einzelnen Teams. Statt eines vorab auf dem Reißbrett vorgezeichneten Ergebnisses steht im Loop der Prozess der Transformation im Vordergrund. Dabei lernt ein Team in drei aufeinander aufbauenden Workshops Tools und Methoden selbstorganisierter Zusammenarbeit kennen und erarbeitet ein für sich passendes Betriebssystem für die Zusammenarbeit. Ursprünglich in der Unternehmenswelt beliebt, wird der Loop Approach mittlerweile auch in Bereichen Verwaltung, Schule oder im Gesundheitswesen eingesetzt.

Das neue Team von Meine Station hat in kurzer Zeit von November 2022 bis Januar 2023 die drei Loop-Module - Klarheit, Ergebnisse und Evolution - durchlaufen. Zum Abschluss wurden zwei Wochen lang auf der Station die Abläufe geschult, Vorräte bestellt und fachliche Themen besprochen. Mit dem dritten Loop-Modul hat die Phase „Stations- und Teamaufbau” ihren Abschluss gefunden. Am 1. Februar begann der Regelbetrieb der Patient*innenversorgung.

Starke Sache

Das Stationsteam entscheidet selbst, wie viele Patient*innen es aufnehmen und versorgen kann. Ein wichtiger Baustein, um einer Überlastung des Teams vorzubeugen und bestmögliche Versorgung der Patient*innen gewährleisten zu können.

Wie arbeitet Meine Station?

Seit dem 1. Februar verfügt das Klinikum Aschaffenburg über eine Station, die nach den Prinzipien der Selbstorganisation arbeitet. Aus den Projektteams der Workshops sind mittlerweile Rollen und Kreise entstanden. 32 Pionier*innen – so heißen die Mitarbeitenden – arbeiten nicht mehr in ihren klassischen Stellenprofilen, sondern erfüllen rollenbasiert ganz verschiedene Aufgaben. Die Psycholog*innen, Physiotherapeuth*innen oder Stationssekretär*innen übernehmen wichtige Rollen im interdisziplinären Behandlungsablauf.

Rollen, die die Patient*innenversorgung betreffen, werden zu Dienstbeginn in der jeweiligen Schicht vergeben. Außerdem gibt es Rollen, die dauerhaft von Teammitgliedern übernommen werden. Die neue selbstorganisierte Dienstplanung wird beispielsweise über derartige dauerhaft per Wahl besetzte Rollen im Team koordiniert und begleitet. Ein anderes Beispiel ist die Rolle „Kommunikationsunterstützer*in“, die u.a. bei der Bearbeitung von Medienanfragen unterstützt. Mit dieser und anderen Rollen werden nun auch Themen ins Team geholt, die nicht zum typischen Aufgabenbereich des Pflegepersonals gehören und vielfach für die Mitarbeitenden neu sind; beispielsweise das Recruiting, die Ausbildung oder Kommunikation & PR.

Aus dem Purpose des Stationsteams leitet sich die Ausrichtung für den neuen Behandlungspfad ab, der die Autonomie der Patient*innen in den Vordergrund stellt.

Die klassische Krankenbett-Visite ist zur Ausnahme geworden. Stattdessen treffen sich Patient*innen und Ärzt*innen im Visiten- und Untersuchungszimmer. Hier verschmelzen die medizinische Diagnostik und das Festlegen der Therapie mit dem einfühlsamen Gespräch. Dieser Rahmen ist intimer, der Kontakt persönlicher, und der Fokus liegt auf dem*der zu behandelnden Patient*in.

Es zeigt sich deutlich, dass das Meine Station Team seinen Purpose ernst nimmt. Die Patient*innen erhalten vor ihrem stationären Aufenthalt individuelle Schulungen, um nach der Operation genau zu wissen, wie sie sich optimal bewegen können und worauf sie für eine bestmögliche Genesung achten müssen. Das Essen wird nicht wie üblich im Patient*innenzimmer eingenommen. Im vom Stationsteam gestalteten Bistro nehmen die Patient*innen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein, was ein neues Gemeinschaftsgefühl schafft und herzerwärmende Begegnungen ermöglicht. Das Ziel ist stets die Stärkung der Autonomie und Mündigkeit der Patient*innen, die Begegnung auf Augenhöhe und die bestmögliche Unterstützung ihrer Genesung.

Wurden viele dieser Veränderungen anfangs vom Organisationsteam angestoßen, kommen Verbesserungsvorschläge mittlerweile regelmäßig aus dem Stationsteam selbst. Wie in anderen Loop-Organisationen passiert das spannungsbasiert. Auch auf der Station werden u. a. via Sync-Meeting operative Spannungen in nächste Schritte und Aufgabenpakete überführt und Strukturveränderungen im Governance-Meeting beschlossen.

Beraterin und Co-Founderin von we.health.care Nadja Nardini

„Am wirkungsvollsten war die Frage „Was brauchst Du?“. Diese haben die Pionier*innen sogar mit ins Privatleben genommen - zum „Leid“ mancher Betroffenen. Das spannungsbasierte Arbeiten klingt so einfach, ist aber gerade für unsere autoritätshörig und problemorientiert geprägte Gesellschaft eine echte Herausforderung. „Was brauchst Du?“, hilft sich daran zu erinnern, von den großen Problemen zu kleine Lösungsschritten zu kommen. Und damit schrittweise entspannter zu werden.“

Die Nabelschau

Auch, wenn Meine Station vergleichsweise frisch gebacken ist, lässt sich jetzt schon sagen: Nichts an diesem Projekt ist Usus, und das schon seit Tag Eins. Denn während die Loop-Ausbildung normalerweise bereits bestehende Teams durchlaufen, diente sie in Aschaffenburg als eine Art „Vorab-Training“ vor der Inbetriebnahme der Station.

Bundesweite Aufmerksamkeit

Dass der Bedarf nach Lösungen zur Mitarbeiter*innenbindung und -gewinnung in Krankenhäusern groß ist, zeigt auch die große Aufmerksamkeit, die das Projekt bundesweit erhält. Auch der Bayerische Staatsminister für Gesundheit und Pflege, Klaus Holetschek, schaute sich die Station Ende August an, zeichnete das Team mit der Barbara-Stamm-Medaille aus und äußerte wertschätzende Worte:

„Das Klinikum Aschaffenburg-Alzenau hat sich mit dem Pilotprojekt ‚Meine Station‘ für die Zukunft gewappnet und hervorragend aufgestellt. Es bietet tolle Chancen, um echte Fortschritte bei der Arbeitszufriedenheit der Pflegekräfte zu erreichen. Durch die zukunftsweisenden Ideen besitzt das Projekt Strahlkraft weit über Aschaffenburg hinaus. Ich wünsche weiterhin viel Erfolg bei der Umsetzung des Projekts und viele Nachahmer!“.

Ein mutiger Weg ganz ohne Hindernisse?

Aus Sicht unseres Beraters, Loop-Prozessbegleiters und Projekt-Architekten Felix, haben die Stationsmitglieder bis heute ganz besondere Herausforderungen zu bewältigen:

Einige Stationsmitglieder haben ihren Wohnort und ihr gewohntes Umfeld gewechselt, um an der Pilotstation teilzunehmen. Sie haben teilweise ihre bisherigen Arbeitgeber*innen verlassen oder sind in ihre früheren Berufe zurückgekehrt, die sie zuvor schon hinter sich ließen. Dann haben sie sich auf eine Gruppe von rund 25 unbekannten Kolleg*innen eingelassen, um eine allgemein- und viszeralchirurgische Station eigenverantwortlich und nach neuen Standards aufzubauen – angefangen beim Behandlungspfad bis hin zum Patient*innenbistro.

Neben diesen Herausforderungen erlernen sie obendrein das Konzept der Selbstorganisation. Dieses steht von der Haltung und der Vorgehensweise im drastischen Gegensatz zu dem, was sie über Jahre und Jahrzehnte im ultra-hierarchischen Umfeld im Krankenhaus erlebt haben. Sie übernehmen zudem neue Führungsaufgaben und Rollen im Team, für die sie erst Kompetenzen aufbauen müssen.

Darüber hinaus spielen auf einmal Videokonferenzen und digitale Kommunikations- sowie Wissensmanagement-Tools eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit. Hinzu kommt immer mal wieder ein Clash zwischen ihren eigenen Erwartungen an die Neuerungen auf der Station und der Geduld, die ein umfangreicher Veränderungsprozess erfordert. Das Projekt findet zudem unter großer medialer Aufmerksamkeit statt und wird von den kritischen Blicken ihrer Kolleg*innen im Krankenhaus verfolgt. All das geschieht, während in erster Priorität teilweise schwerkranke Patient*innen bestmöglich zu versorgen sind.

Berater & Loop-Begleiter Felix Herters Resümee:

„Als mir Nadja und Hubertus ihre ersten Ideen für den Stationsaufbau vorgestellt haben, war ich zugegeben skeptisch. Es gab eine leere Station ohne Stationsbetrieb, kein bestehendes Team und dann war der Loop-Prozess auch noch als eine vorgeschaltete Ausbildung gedacht, bevor das Team überhaupt einen Dienst zusammen verrichtet. Das waren besondere Bedingungen für alle Beteiligten - für uns im Organisationsteam und jede*n Einzelne*n im späteren Stationsteam. Ich habe großen Respekt vor allen Beteiligten, wie sie sich diesen Herausforderungen stellen.“

Dranbleiben wird belohnt

Das Feedback von Patient*innen und Mitarbeitenden ist äußerst positiv. Einige Verbesserungen sind sogar messbar. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer auf Meine Station ist ungewöhnlich kurz, nicht weil Patient*innen rasch entlassen werden, sondern weil es so aussieht, als würden sie tatsächlich schneller genesen als auf anderen Stationen. Das gilt es weiter zu evaluieren.

Erste Erfolge spiegeln sich auch im Team wider. Die Enttäuschung und Ermüdung über die klassische Art des Stationsbetriebs werden durch eine motivierende neue Vision in Gestaltungslust bei Meine Station überführt. Menschen, die bereits aus dem Pflegebereich ausgestiegen waren, kehren wieder ans Patient*innenbett zurück.

Für Hubertus und Nadja ist diese Dynamik schon jetzt ein Riesenerfolg. Denn den beiden geht es eben genau darum: Dass Ärzt*innen und Pflegekräfte wieder spüren, dass das, was sie tun, einer der wichtigsten Jobs überhaupt ist.

In Zahlen

70

Bewerber*innen für das Pilotprojekt

ca. 40

medizinisches Fachpersonal

ca. 32

Pionier*innen in der Station seit Betriebsbeginn, tendenz steigend

10

Führungskräfte geloopt

25

Ärzt*innen geloopt

1

Ehrung mit der Barbara-Stamm-Medaille des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege (08/2023)

1. Platz

beim Förderpreis für Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) der DAK-Gesundheit (10/2022)

2. Platz

beim New Work SE New Work Award 2023 in der Kategorie “Better Work” (06/2023)

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